Wie Mehltau…
Immer zum Beginn des Jahres lädt der amtierende Oberbürgermeister zum Neujahrsempfang, die Amtskette wird aus dem Tresor geholt und die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit hat Stress. Für das zurückliegende Jahr werden Erfolge bebildert und zu einem Jahresfilm zusammen geschnitten. Im Ideal fall passt dann die Ansprache des Oberbürgermeisters zum Film.
Auch in diesem Jahr waren wieder hunderte geladene Gäste im Ratssitzungssaal und nutzten die Gelegenheit für gute Wünsche und Gespräche. Wohltuend kurz fiel der offizielle Teil aus. Der Oberbürgermeister wünschte sich für das neue Jahr, dass wir alle einmal nur die positiven Seiten sehen mögen. In einem Jahr, wo in drei Monaten das Votum über seine Amtszeit ansteht ist dies ein verständlicher Wunsch. Aber auch heute Abend wurde wieder deutlich warum sich sein Wunsch nicht erfüllen wird.
Beim Verlesen seiner Neujahrsrede wurde Andreas Bausewein nicht müde zu betonen wie erfolgreich das letzte Jahr war. Als er am Ende seiner Rede erklärte, dies könne nun jeder an Hand des folgenden Stadtvideos prüfen, stieg die Neugier auf das Werk der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit. Offensichtlich hatte der Oberbürgermeister den Film zuvor noch nicht gesehen, sonst hätte er gemerkt, dass dieser nicht so recht zu seiner Erfolgsrede passen wollte.
Gefühlt jeder zweite Beitrag drehte sich um die Multifunktionsarena – wie alle wissen alles andere als eine Erfolgsgeschichte. Weder finanziell, noch vom Zeitplan und auch nicht bei der wirtschaftlichen Betrachtung kann die Arena als Erfolg betrachtet werden. Die zuständige Beigeordnete kam in dem Video vorsichtshalber nicht ins Blickfeld. Lediglich die beiden Großveranstaltungen der Deutschen Meisterschaften der Leichtathletik und das Frauen-Länderspiel gegen Kanada können als positive Beispiele herhalten. Aber auch nahezu alle anderen Beiträge lagen wie Mehltau über den Problemen der Stadt. Ein Kindergartenneubau im Johannesfeld kann nicht darüber hinweg täuschen, dass die Kitas bestenfalls erst bis 2021 saniert sind, obwohl Andreas Bausewein einst 2012 versprochen hatte.
Ein Fördermittelbescheid für eine Berufsschule kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Schulen der Stadt marode sind und rund 450 Millionen Sanierungsbedarf haben. Bauseweins Ankündigung, diesen Stau innerhalb von 10 Jahren abzubauen kann man getrost als Neuauflage des Kita-Märchens verbuchen. Die gefeierte Einweihung der Rathausbrücke gewinnt ob ihrer Gestaltung als Hubschrauberlandeplatz lediglich mit Pitti, der noch einsam auf der Brücke sitzt. Der Sanierungsbedarf an Straßen und Brücken ist beträchtlich – immerhin kündigte der OB dazu viele Baustellen in diesem Jahr an. Die missglückte Begegnungszone fand nur indirekt Erwähnung und sorgte für nette Bilder beim jeweiligen Stadtrundgang mit dem Königspaar und dem Bundespräsidenten. Die Ortsteile gab es im Jahresrückblick des Oberbürgermeisters gar nicht.
Der überlange Schluss mit der vollständigen Fassung eines Weihnachtsliedes von unserem wunderschönen Weihnachtsmarkt sollte wohl für besinnlich schöne Klänge sorgen. Es gibt viele positive Dinge in unserer Stadt. Dass sie wächst gehört dazu – über 213.000 Einwohner. Sie ist wunderschön und um unsere Altstadt beneidet uns jeder Besucher. Der ICE-Bahnhof macht uns zur wirklichen Mitte Deutschlands. Aber es gibt auch viel zu tun. Wenn wir uns den Herausforderungen im Stadtrat stellen wollen und der Oberbürgermeister die Stadt führen und nicht nur verwalten soll, müssen die unangenehmen Themen benannt werden. Dinge schön reden und nur die positiven Dinge sehen, bringt uns nicht weiter.