Vor 35 Jahren, am 30. Mai 1990 konstituierte sich der Erfurter Stadtrat nach der ersten freien Kommunalwahl. Er trug damals noch den Namen Stadtverordnetenversammlung und war mit 160 Stadtverordneten aus sieben Wahlbezirken das größte Kommunalparlament der ehemaligen DDR. Ab 1994 waren es dann gemäß Thüringer Kommunalordnung nur noch 50 plus der Oberbürgermeister. In einer Festveranstaltung haben wir gestern Abend an die Konstituierung erinnert. Unser Oberbürgermeister Andreas Horn hatte dazu ins Theater eingeladen und neben ihm durften auch ich als amtierender Stadtratsvorsitzender, der erste Stadtratspräsident Karl-Heinz Kindervater (1990 – 1994), die Stadtratsvorsitzende Birgit Pelke (2009 – 2019) zu den Gästen sprechen.

Für mich war dies eine besondere “Zeitreise”. Seit September 1993 war ich Stadtverordneter und später Stadtrat. Lediglich in der zweiten Wahlperiode habe ich gefehlt, weil ich beruflich in Bonn war. Deshalb kannte ich gestern Abend praktisch alle ehemaligen Kolleginnen und Kollegen.
Nachfolgend meine Rede zum Jubiläum:
Sehr geehrte Stadtverordnete, Stadträtinnen und Stadträte,
411 waren wir in den letzten 35 Jahren – gut ein Drittel sind heute Abend hier.
So ein wenig ist es heute wie bei einem Klassentreffen – wir freuen uns über das Wiedersehen und sind neugierig, nicht alle erkennt man auf den ersten Blick und bei einigen merkt man im Laufe des Abends warum man sich auch zu Schulzeiten nicht so sehr gemocht hat. Ich bin sehr froh darüber sie alle heute hier begrüßen zu können – auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren. Ebenso ein herzliches Willkommen allen ehren- und hauptamtlichen Beigeordneten und den Oberbürgermeistern der letzten 35 Jahre.
Am 30.5.1990 hat sich erste freigewählte Stadtverordnetenversammlung konstituiert. Heute vor einem Jahr wurde der Stadtrat zum 8. Mal gewählt.
160 Stadtverordneten wurden 1990 gewählt und insgesamt waren es am Ende der Wahlperiode sogar 227, denn es legten 67 ihr Mandat in den ersten vier Jahren nieder – berufliche und persönliche Veränderungen waren dafür zumeist ausschlaggebend. Aber es gab zweifellos auch politische Enttäuschungen und Änderungen im persönlichen politischen Koordinatensystem.
72 Stadtratskolleginnen und Kollegen sind leider inzwischen schon verstorben – wir gedenken ihrer nicht nur in den Stadtratssitzungen, sondern auch beim heutigen Jubiläum.
Und um noch eine bemerkenswerte Zahl hinzuzufügen: es gibt inzwischen 11 Ehrenstadträte, die über 20 Jahre dem Stadtrat angehört haben, zwei von ihnen sogar über 30 Jahre.
Mit welcher Motivation machen wir das? Jede Wahlperiode wird mit einem ökumenischen Gottesdienst eröffnet und häufig wurde der Bibelspruch „Suchet der Stadt Bestes“ Jer. 29,7 (Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s euch auch wohl.). Jeder von Ihnen – egal ob 1990 oder 2024 hat kandidiert, um mitgestalten zu können. Jeder von Ihnen hat dafür das Vertrauen erst bei der Nominierung und später bei der Wahl bekommen und wir wussten meist noch nicht, was uns erwartet.
Und wie ist es mit dem Zeiteinsatz? Kommunalpolitik ist durchaus eine der zeitintensivsten ehrenamtlichen Beschäftigungen, was nicht immer ausreichend wertgeschätzt wird. Neben den regelmäßigen Stadtratssitzungen stehen Ausschusssitzungen, Arbeitskreissitzungen, Fraktionssitzungen und diverse andere Gremien an. Durchschnittlich vier Abende pro Woche verbringen die Kolleginnen und Kollegen mit Kommunalpolitik und da sind die Besuche bei den vielen freien Trägern, Einrichtungen, der Freiwilligen Feuerwehr und Anderen an den Wochenenden noch gar nicht mitgezählt. Vielen Dank den Familien und Angehörigen, die uns dafür den Rücken freihalten.
Wie steht es um Gestaltungsspielräume? Kommunalpolitische Entscheidungen häufig erst am Ende der „Nahrungskette“ Europa, Bund und Land liefern die gesetzlichen Rahmenbedingungen und die frei verfügbaren Finanzmittel sind beschränkt. Abgaben-, Gebühren- und Steuerschrauben lassen sich nur schwer drehen. (Erinnerung an das tolle Jahr von Erfurt 1509 und das dazugehörige Bild im Festsaal). Die Thüringer Kommunalordnung und die Thüringer Gemeinde-Haushaltsverordnung setzen da heute klare Grenzen und ganz am Ende auch noch die Kommunalaufsicht und das Landesverwaltungsamt.
Koalitionen, Kooperationen, Mehrheiten, Besonderheiten? In den inzwischen 8 Wahlperioden des Stadtrats gab es neben der überwiegenden Zahl an ehrenamtlichen Stadträten auch Minister, Bundestagsabgeordnete und Landtagsabgeordnete im Stadtrat. Durch die räumliche Nähe mehr, als in allen anderen Kommunalparlamenten in Thüringen. Die Verbindung zum Land hat uns überwiegend geholfen aber auch manch politische Themen in die Stadtratsdebatten getragen und die Sitzungen des Stadtrats gedehnt.
Was machen wir eigentlich bei den Stadtratssitzungen? Als Stadtratsvorsitzender darf ich nun schon in der zweiten Wahlperiode die Sitzung des Stadtrates leiten – so wie meine Amtsvorgänger Karl-Heinz Kindervater von 1990 – 1994, Heiko Vothknecht von 1999 – 2009 und Birgit Pelke von 2009 bis 2019 dazwischen hat Manfred Ruge die Aufgabe von 1994 bis 1999 als Oberbürgermeister die Aufgabe mit erledigt.
Stadtverordnetenvorsteher oder Stadtratsvorsitzender? Im Norden Deutschlands lautet die Bezeichnung Bürgervorsteher oder Stadtpräsident. Eine andere Bezeichnung ist inzwischen fast ausgestorben – in Kiel, wie in anderen Gemeinden war die Bezeichnung lange Bürgerworthalter (inzwischen nur noch in Bad Oldesloe).
Egal wie die offizielle Bezeichnung für uns alle nun gemäß ThürKO lautet, ob Stadtverordnete, Stadträtinnen und Stadträte oder Bürgerworthalter wir haben uns und werden uns weiter für die Bürgerinnen und Bürger in Erfurt engagieren.